Soll ich mich stationär in einer psychiatrischen Klinik behandeln lassen? Oder sind da lauter Irre? Bin ich dann irre? Aber ich bin doch depressiv. Ist so ein Aufenthalt in einer Psychiatrie überhaupt hilfreich oder macht es alles schlimmer?

Wenn die Depression so heftig zuschlägt, dass die Gedanken nur noch in Richtung Suizid wandern, dürfte es sich kaum noch um „eine Kleinigkeit“ handeln, die mit „trink mal ’ne Tasse Tee und lass mal die Seele baumeln“ behandelt werden kann.
Wenn die Depression so heftig zuschlägt, braucht man Hilfe von außen. Alleine findet man keinen Weg mehr hinaus.

Ende November 2021 merkte ich selbst, dass meine Depression und meine Suizdgedanken so ein Ausmaß angenommen hatten, dass ich professionelle Hilfe benötigte. Wie weit war ich? Nun, so weit, dass die Pläne, wie ich vorgehen wollte und was ich bis zu meinem „Abflug“ noch zu regeln hatte, immer konkreter wurden. Ein Freund meinte dazu nur später, dass er froh wäre, dass ich gestoppt wurde. Wenn ich wirklich plane, dann setze ich mein Vorhaben sehr zügig erfolgreich um.
In meinen Horrorvorstellungen war die Psychiatrie schlimm. Sehr schlimm. Doch ich benötigte so dringend Hilfe, dass ich freiwillig eine stationäre Behandlung in einer psychiatrischen Klinik antrat.

 

Freiwillig in der Psychiatrie

Meine Hausärztin überwies mich nach Alzey, obwohl sie nicht überzeugt wirkte. Sie schätzte meinen Zustand als „nicht akut“ ein. Trotzdem rief sie in der Rheinhessen-Fachklinik an und vereinbarte für mich einen Gesprächstermin am nächsten Tag, dem 30.11.2021.

Der freundliche Stationsarzt dort im Haus Jakobsberg hätte mich beinahe sofort da behalten, weil er die Lage als sehr akut einstufte. Er vereinbarte mit mir, dass ich am darauffolgenden Tag wegen des PCR-Tests kommen sollte (Corona-Zeit) und dann einen weiteren Tag darauf im Haus Nahetal aufgenommen werde, trotzdem hatte er Bedenken. Aber mein Papa hatte mich nach Alzey gefahren – und im Kurzarztbericht steht so schön: „Sie wurde in die Obhut ihres Vaters […] entlassen.“

Das Gelände der Klinik ist in Häuser unterteilt, dazwischen Grünflächen sowie ein Damwildgehege. Es gibt sogar einen kleinen Hof mit Esel, Pfauen, Hühner, Schweine usw.
Die Häuser tragen Namen verschiedener geographischer Orte in Rheinhessen. Der Jakobsberg, nach dem das Gebäude mit der Aufnahme, der geschlossenen Station sowie den Entgiftungsstationen benannt wurde, befindet sich bei Ockenheim, südöstlich von Bingen. Im Haus Nahetal, das zu den größten Gebäude auf dem Gelände zählt, werden auf zwei Stationen Depressionen behandelt. Nahetal – das ist die Weingegend entlang des Flusses Nahe von Birkenfeld bis nach Bingen, wo die Nahe in den Rhein mündet.

Ursprünglich hätte ich Donnerstag im Haus Nahetal meine Aufnahme gehabt, doch an diesem Morgen erhielt ich einen Anruf. Durch einen Coronafall auf der N1 gab es einen Aufnahmestopp. Die freundliche Dame am Telefon hatte aber bereits eine Lösung im Hinterkopf. Ob ich denn in ein anderes Haus gehen würde. Klar, war sowieso alles für mich Neuland.

Kurz danach klingelte das Telefon erneut und ich erfuhr, dass meine Station nun das Haus Vorholz ist. Dort werden zwar auch Depressionen behandelt, allerdings liegen meist Doppeldiagnosen vor wie Depression + Alkoholsucht.

 

Psychiatrie – ist es da schlimm?

Das Vorholz ist eines der größten Waldgebiete in Rheinhessen und ca. 15 km von Alzey entfernt. Im Haus Vorholz gibt es eine Station mit 25 Leuten – als ich da war, gab es freie Zimmer, daher geschätzt – und das Gebäude selbst wirkt von außen wie eine gemütliche Jugendherberge, gleich gegenüber des Damwildgeheges. Draußen vor der Tür ist ein Holzunterstand mit Bänken und Tischen, die „Raucher-Lounge“.

Dort traf ich auf meinen ersten Mitpatienten, der mich freundlich begrüßte, meinen Koffer die Stufen hochschleppte und mich zur Schwester brachte. Diese stellte sich gleich als Schwester Waltraud vor, erklärte mir die ersten Abläufe und nahm mich ein klein wenig unter ihre Fittiche, weil ich von all den neuen Eindrücken gnadenlos überfordert war. Naja, war ich die ersten zwei bis drei Tage… Aber so wie ich von allen aufgenommen wurde, mir vieles erklärt und gezeigt wurde, der Humor – also den Haufen dort, den konnte ich nur total klasse finden.
Das half mir, mein Gedankenkarussell zu durchbrechen und zwischendurch einfach nur noch zu lachen. Mir half das.

Hatte ich das erwartet?
Nein!

Ich hatte nicht erwartet, dass ich mich so schnell dort „einleben“ und wohlfühle würde. Die Ärztinnen und Ärzte, Schwestern und Pfleger, Therapeutinnen und Therapeuten, die Sozialarbeiterinnen und vor allem der lustige Haufen an „Gestrandeten“ schafften es, dass ich zeitweise wirklich das Gefühl hatte, in einer Jugendherberge zu sein. Allerdings samt Betreuung, die bei Problemen zuhört und weiterhilft.

Das Essen war in Ordnung. Ja, hier kommt eine kleine Einschränkung, die jedoch nicht gravierend ist. Als Vegetarier hätte ich mir mehr Gemüse statt Tofu oder Sojawürstchen gewünscht. War aber kein echtes Problem, denn die Sojawürstchen verteilte ich an die Fleischesser, wenn sie wollten. Seltsamerweise wollte keine der Mitvegetarierinnen mehr davon. 😉

Ablauf in einer Psychiatrie

Durch die Krankheitsausfälle und weil ich vom 02.12.2021 bis zum 18.01.2022 auf Station war, fiel immer wieder etwas aus. Andererseits fand ich es erstaunlich, wie viel trotz (Vor-)Weihnachts- und Silvesterzeit stattfand und uns geboten wurde:
Plätzchen backen! Schokoladennikoläuse! Weihnachtslieder singen war weniger mein Fall, gab’s aber auch. Kein Kirchenzwang, wäre aber möglich gewesen. Besonders lustig fand ich es, als im TV „Der König der Löwen“ lief und die ganze Meute fröhlich mitsang, wie eine Horde Kinder bei einem Kindergeburtstag.

Leider reisten viele am 23.12. ab, doch für uns Zurückgebliebenen änderte das nichts an ausgiebigen Karten- und Brettspieleabende, bei denen sogar die Schwestern mitmachten.
Silvester waren wir ganz wenige, aber mir hat es wirklich gefallen. Skippo spielen bis um Mitternacht, nach draußen gehen, den Patienten in der Forensik lauschen, wie sie den Countdown brüllten (raus durften sie ja nicht) und dem Feuerwerk zusehen. Danach haben wir selbstverständlich weitergespielt.

Ansonsten waren die Tage strukturiert:
Aufstehen, Morgenbewegung, Frühstück. Danach konnten die einzelnen Tage variieren, da nicht alle zur gleichen Zeit Ergotherapie, ihre Einzelgespräche oder auch nicht jeder in der gleichen Sportgruppe war. Unterbrochen wurden die Termine von den gemeinsamen Essen und der täglichen Blutdruckmessung.

Ich hatte an drei Tagen Ergotherapie, samstags gab es eine offene Ergo, an der jeder, der wollte teilnehmen konnte, sowie je einmal in der Woche Bouldern, einen Spaziergang und Fitnesstraining. Irgendwie mag ich seit Alzey Traumfänger sehr gerne und bastelte dort einige.
Achtsamkeitstraining, Entspannungstraining – oh, und trommeln! Trommeln war klasse.

Einmal pro Woche fand ein Gespräch mit dem zuständigen Therapeuten statt, ebenso ein Chefarztgespräch, wobei die Bezeichnung „Gespräch mit mehreren des behandelten Teams“ zutreffender ist. Gerade an Einzelterminen hatte ich mir mehr erhofft, aber das Gesamtpaket passte bei mir trotzdem – obwohl die Depressionsbewältigungsgruppe wegen des Personalmangels nicht stattfand. Die Veranstaltungen zu den Süchten standen nicht in meinem Plan, andererseits rauche ich nicht einmal mehr seit Anfang 2019.

Mein Fazit: Psychiatrie ist hilfreich

Natürlich kann ich nicht für alle sprechen, weder für alle Patienten noch alle Kliniken.
Nachdem ich mich in meinen Gesprächsgruppen mit anderen ausgetauscht habe, die ebenfalls ihre stationären Aufenthalte als sehr hilfreich einstuften, kann ich es nur empfehlen:

Wenn du am überlegen bist, ob du in eine Klinik gehst, dann nimm diese Hilfe in Anspruch. Es muss dir schlecht gehen, sonst ginge dir das nicht durch den Kopf, oder? Du kannst sicherlich auch zuerst ein Gespräch dort führen und dich erkunden, wie alles abläuft.

Ich war nicht auf einer geschlossenen Station, das wurde nach dem ersten Gespräch gemeinsam entschieden, da ich zwar plante, aber der Impuls zum Suizid (noch?) nicht da war. Genau, gemeinsam.

Die Zeiten sind längst vorbei, als Patientinnen und Patienten Zwangsspritzen etc. erhielten, mittlerweile ist es mehr ein Miteinander. Und sollte tatsächlich einer der Ärzte den „weißen Gott“ heraushängen lassen, ist es möglich, diesen zu wechseln.

Von meiner Seite ganz klar:
Ja, der Aufenthalt in einer Psychiatrie ist hilfreich.

 

Ein Hinweis zum Schluss

Trotz Aufenthalt in einer Psychiatrie gestaltet sich die Suche danach nach einem Therapeuten oder Psychiater als schwierig. Monatelanges Warten ist meist angesagt.

Es gibt auch Tageskliniken, Psychiatrische Institutsambulanzen und Gesprächsgruppen.
So eine Gruppe ersetzt keinen Therapeuten oder Psychiater, kann jedoch den Sturz zurück in die Realität nach einem Klinikaufenthalt abfedern. Denn dieser kann sich schlimm anfühlen, nachdem mögliche seelische Wunden freigelegt, aber noch nicht ganz verdaut wurden. Hinzu kommt, dass der Aufenthalt in einer Psychiatrie wie unter einer schützenden Glocke ist, die danach einfach verschwunden ist.