Im Jahr 2023 könnte so jemand wie ich tatsächlich auf die blöde Idee kommen, dass es sich mittlerweile herumgesprochen hat, dass eine Depression eine Krankheit ist. Immer wieder werde jedoch ich eines Besseren belehrt: „Aber du hast doch nichts Richtiges!“
Wieso „wissen“ einige Leute mehr als meine Psychiaterin oder das Klinikpersonal im Landeskrankenhaus Alzey oder der Rehaklinik? Vermutlich gehen einige davon aus, dass ich nicht genug weine und ein Lächeln grundsätzlich bedeutet: „Mir geht’s gut.“
Dabei weine ich ungern in der Öffentlichkeit, so wie die meisten Menschen. Und ein Lächeln? Zum Teil ist das ein antrainiertes Verhalten. Oder hat jemals einer Eltern gehört, die ihre Kinder aufforderten, patzig, trotzig, schlecht gelaunt zu sein? Ich lernte, ich solle nicht „so eine Fresse“ ziehen. Immer hübsch lächeln, immer hübsch die Hand reichen und bloß keine Umstände machen.
Verurteilungen verletzen
„Nichts Richtiges“ bedeutet, dass ich nicht krank bin, sondern eine Simulantin bin. Zumindest unterstellt mir die andere Person das. Doch was ist ein Simulant? Das ist jemand, der eine Krankheit vortäuscht. Also täuscht, vorgibt – lügt. Aufgrund meiner Depression bin ich gerade arbeitsunfähig. Also bin ich in Wirklichkeit arbeitsfähig, belüge meine Umgebung und bin höchstwahrsheinlich einfach nur unglaublich faul.
Das Urteil „nichts Richtiges“ zieht also bereits hier einen ganzen Rattenschwanz hinter sich her. Es geht jedoch noch weiter.
„Nichts Richtiges“ bedeutet, dass ich ein Weichei bin, ein Jammerlappen, mich vor meiner Verantwortung drücken will und einfach nur mal die Zähne zusammenbeißen muss. Genau das sage ich mir auch, gerade wenn es mir besonders schlecht geht. Leider hilt mir das nicht, wieder auf die Beine zu kommen, sondern saugt mir das letzte Bisschen an Energie aus. Sagt mir jemand anderes das, fühle ich mich total verletzt und ich ziehe mich zurück. Und eines ist sicher: Bei dieser Person werde ich lügen, um mich zu schützen. „Jaja, alles soweit okay.“
Oft wünsche ich mir, die Depression wäre klar sichtbar
…denn dann wird es schwerer, die Depression als „nichts Richtiges“ abzustempeln. Gleichzeitig wünsche ich es mir jedoch nicht, da ich fürchte, dass dies schnell zu Diskriminierungen führen kann.
Depression? Auch wenn mal gehabt und genesen = hält nix aus = kann man Job XXX nicht geben = ist wahrscheinlich unfähig, sich um ihr Kind zu kümmern usw.
Viel zu oft wird diese Krankheit mit einem Persönlichkeitszug bzw. einer Schwäche gleichgesetzt.
Oder wie schnell heißt es auch, dass der/die Kranke das selbst „verschuldet“ hat?
Heute im Gespräch mit meiner Psychiaterin verglich ich kurz die Depression mit meiner Colitis Ulcerosa (chronische Darmerkrankung). Keiner käme auf die Idee, wenn ich von Blut im Stuhl oder Unterleibsschmerzen erzähle, dass ich das ja selbst verursacht habe. Wieso wird eine Erkrankung, die meistens viel besser behandelbar ist und, zumindest für mich, viel besser zu ertragen ist, ernst genommen? Während die potenziell tödliche Erkrankung als Hirngespinst verharmlost wird?
Das alles verstehe ich einfach nicht.
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