Willkommen im Land der Dysthymie und Depression!

Kategorie: Erfahrung

Ausdruckszentrierte Ergo

Als ich vor einem halben Jahr den ersten Reha-Anlauf nahm, der „dank“ Corona abgebrochen wurde, wunderte ich mich über diese Ergoform. Ausdruckszentrierte Ergo, was sollte das sein? Was macht man da? Bei der Einführung klang es immer noch mysteriös, aber so interessant, dass ich daran teilnehmen wollte. Auch dieses Mal nehme ich daran teil.
Zwei Stunden mit dieser kreativen Ergomethode habe ich bereits hinter mir. Daher erzähle ich etwas von meiner Erfahrung.

Was ist die ausdruckszentrierte Methode?

„Den subjektbezogenen, ausdruckszentrierten Übungen liegen tiefenpsychologisch orientierte Konzepte zu Grunde.“ erklärt das pdf des Deutschen Verbandes der Ergotherapeuten. Mit Hilfe von Farben, Formen und Symbolen sollen Bilder entstehen, die besser als Worte die eigenen Gedanken und das eigene Empfinden zu einem Thema ausdrücken. Die Bilder sind sehr individuell und zeigen manches Mal auch, was einem selbst noch unklar oder nur vage bewusst war.

Jede Stunde gibt die Ergotherapeutin oder der Ergotherapeut ein Thema vor, danach malen alle in der Gruppe etwa 20 Minuten mit Buntstiften, Öl- oder Pastellkreiden auf DIN A3-Bögen das, was ihnen einfällt. Natürlich könnten es auch andere Farben sein usw. Nach der Malphase zeigen sich alle ihre Bilder.

Die eine Therapeutin ließ erst alle anderen mitteilen, was sie mit dem Bild assoziieren, danach die malende Person erzählen, wenn diese wollte.
Die andere Therapeutin ließ die Malenden erzählen und fragte sie, wo sie auf dem Bild wären. Wie es sich dort anfühle. Danach, wie es sich woanders anfühlen würde, wen die Position im Bild eine andere wäre. Sie fragte, was es nicht geben dürfe (Thema war der Wohlfühlort). Nachdem alle ihre Bilder vorgestellt hatten, wünschten wir uns noch gegenseitig etwas („gaben etwas“) aus unseren Bildern bzw. „nahmen“ auch etwas aus anderen Bildern in Gedanken.

Stunde 1 der ausdruckszentrierten Ergo

Das Thema der ersten Stunde war „Mein Lebensgarten“, wobei es um den Wunschlebensgarten ging. Was darf vom bisherigen Garten bleiben und was soll weg? Was darf hinzukommen? Wie soll der Lebensgarten aussehen?

Thema und Bild der ersten Stunde ausdruckszentrierte Reha: mein Lebensgarten

Die einzelnen Gärten sahen sehr unterschiedlich aus: Die einen Bilder zeigten Bäume, andere Blumen oder beides, manche hatten Wiesen, Seen, Weinreben, Häuschen… Manche Bilder waren voll, andere – so wie meines – sogar eher leer.

Da ich an einem Neuanfang stehe, will ich Platz lassen für Dinge, die kommen können. In Ruhe will ich mir einen Überblick verschaffen, gleichzeitig jedoch nicht komplett alles aus meinem Leben werfen. Dafür steht der Baum, der Jahre zum Wachsen benötigte. Das Wasser des Sees steht für das Fließen, für Gefühle, Frische, Entspannung und einfach auch mal auf der Wiese unterm Baum liegen und auf den See schauen. Also einen Halt oder Entspannungspunkt einbauen. Die Büsche im Hintergrund halten manch neugierigen Blick ab, und bitte auch Menschen und Dinge, die ich nicht mehr will.

Stunde 2 der ausdruckszentrierten Ergo

Dieses Mal lautete das Thema „Wohlfühlort“. Natürlich ging mir sofort mein Bett durch den Kopf… Wo fühle ich mich wohl? Wie sieht es dort aus? Was darf sein und was nicht?

Ausdruckszentrierte Ergo, Stunde 2: mein Wohlfühlort

Bett, Tischchen daneben, auf dem Laptop, Tasse und Bücher Platz finden, außerdem sogt sich ein freundlicher Roboter daraum, dass mir weder Tee noch Kaffee ausgehen, erledigt die Hausarbeit usw. Eine Katze dürfte noch da sein, ein Fenster (hab ich irgendwie vergessen), aber kein anderer Mensch. Also für mich klingt das absolut ideal.

Als ich die anderen Bilder sah, wurde mir bewusst, wie klein meine Welt ist oder geworden ist durch meine Depression und das Rückzugsbedürfnis. Natürlich konnten die anderen Teilnehmenden nachvollziehen, dass ein Bett ein absoluter Wohlfühlort ist, manche wollten auch gerne so einen Roboter, aber wohl kaum einer dieses Eingeschänkte. Ich ja dann auch nicht mehr… Ich klaue mir das Wohnmobil von dem anderen Teilnehmer und bringe mein Bett samt Roboter dort unter. Vielleicht kann der Roboter sogar fahren? 😉

Fazit (bis jetzt) zur ausdruckszentrierten Ergo

Es ist also sehr interessant, was die ausdruckszentrierte Ergo zutage fördert oder auch bewusst macht.

Früher wollte ich doch die Welt sehen, weshalb ist nun nur noch einigeln angesagt? Kann ich das kombinieren? So irgendwie mitteloffen-eingeigelt sein?
In meinem Garten wäre zumindest genügend Platz dafür. Ich muss selbst für die notwendige Ruhe und das Fließen sorgen. Mal schauen wie.

Auf jeden Fall bin ich sehr gespannt, was die nächsten Stunden verdeutlichen werden. Mich bringt die ausdruckszentrierte Ergo zum Nach- und Überdenken, was ich klasse finde.

Reha-Start

Heute startete meine Reha in der gleichen Klinik wie zuletzt, als ich aufgrund von Corona die Reha abbrechen musste. Die Anreise war jedoch eine andere: Beim letzten Mal fuhren mich mein Papa und meine Stiefmama, dieses Mal nahm ich die Bahn. Meine ersten Eindrücke.

Holpriger Reha-Start dank Bahn

Mit dem Bus zum Bahnhof in Bad Kreuznach – einwandfrei geklappt. Der Busfahrer wollte jedoch, dass ich ein Ticket bis zum Bahnhof kaufte. Der Reisekostengutschein von der Deutschen Bahn wäre nicht gültig. Auf die Schnelle habe ich noch keine Info darüber gefunden, ob das stimmt (will ich ja wegen meiner Rückreise wissen) oder ob bei diesem Ticket auch die Busfahrt inklusive ist, so wie es bei einem Bahnticket z. B. von Mainz nach Bad Kreuznach ist.

Aber das war das kleinere Übel. Es war unheimlich kalt heute Morgen – und der Zug von Bad Kreuznach nach Hochspeyer hatte Verspätung. Der Anschlusszug fuhr mir direkt vor der Nase weg, der nächste Zug hatte laut Ansage und Anzeige erst Verspätung, dann fiel er komplett aus. Immerhin klappte dann die alternative Alternative und ich landete in Neustadt an der Weinstraße. Ab jetzt klappte es dann: Umstieg in Neustadt, Umstieg in Winden, Ankunft in Bad Bergzabern. Dort holte mich ein freundlicher Mitarbeiter der Klinik mit einem Buschen ab.

Ankunft in der Klinik

Beim ersten Anlauf war ich überwältigt von der Masse an Informationen. Dieses Mal war es angenehm, bereits einiges zu wissen. Ich kenne die Anordnung der Gebäude, einige Namen, einige Abläufe… Puh, eine Erleichterung für mein schnell überlastetes Gehirn.

Die Celenus Parkklinik liegt etwas außerhalb von Bad Bergzabern, zu Fuß ist der Ort jedoch relativ schnell zu erreichen. Genauso wie der Wald, der direkt vor der Haustür ist. Nun ja, und hier herrscht ein Funkloch. Das W-LAN der Klinik, für das man einen Voucher kaufen muss, ist sehr langsam. Aber so lange ich hier an der Homepage weiterarbeiten kann, ist mir das egal. Dann sitze ich halt im Gruppenraum, tippe, während andere fernsehen.

Der Empfang war sehr freundlich, die Co-Therapeutinnen (so werden die Schwestern hier genannt) humorvoll, meine Therapeutin und Ärztin vom letzten Mal habe ich wieder… Sehr gut. Die erkannten mich sogar wieder!

Einen Unterschied gibt es gegenüber dem letzten Mal, außer dass wir uns hier jetzt maskenfrei bewegen können: In einigen Fluren liegen Stromkabel. Mein Chauffeur zur Klinik erzählte mir, dass es vor einigen Wochen einen Brand gab. Eine Meldung darüber im Presseportal der Polizei Rheinland-Pfalz: Brand in Klinikgebäude

Die Zimmer hier sind sehr schön. Und das Mittagsessen schmeckte richtig gut: Waldpilzcremesuppe, dann Reis mit Gemüse, schärfer gewürzt. Zum Nachtisch gab es einen gefüllten Kreppel. Nee, keinen Krapfen oder Berliner, ich futtere Kreppel! 😉

Und nun verabschiede ich mich, denn morgen startet mein Reha-Programm richtig. Ein Glück – die ganzen Einführungsveranstaltungen muss ich nicht mehr durchziehen, nur einen Teil.

Früher war alles…

Früher war alles angeblich besser. War es das wirklich? Wie sahen denn der Zusammenhalt aus, die gegenseitige Hilfe, der gegenseitige Respekt usw.?

Früher hielten alle zusammen

Ich weiß nicht, von welchem „früher“ die Rede ist, oder aus wessen Sicht.
Aus meiner Sicht war es bei meinem Früher, als ich in einem Dorf aufwuchs, nicht immer besser. Mein „Baujahr“: 1975.

Richtig, wir bemalten noch die Straße mit Kreide und es kam keine Polizei. Oh ja, wir spielten viel draußen.
Hier sehe ich klare Vorteile gegenüber den Spätergeborenen, die vieles nicht mehr dürfen und es gar nicht kennenlernen, dass draußen überhaupt gespielt werden darf. Ich bin mir auch sicher, dass die Erwachsenen früher von unserem Lärm genauso genervt waren. Vieles wurde mit „Es sind halt Kinder.“ und einem Achselzucken erledigt.

Andererseits lernten bereits wir, dass wir nicht mit Fremden sprechen sollen. „Nimm keine Süßigkeiten von Fremden an!“

Wir lernten, dass Erwachsene Recht haben. Das galt scheinbar auch bei der Grundschullehrerin, die ich in der ersten Klasse hatte, und die ohrfeigte oder den Hintern versohlte. Allgemein erhielten wir zwar nicht die Prügel, die unsere Eltern ertragen mussten, aber dass gar nicht geschlagen wurde? Eher eine Ausnahmeerscheinung.

Zusammenhalt? Bei der Gerüchteküche gab es den.
Eines der Gerüchte im Dorf lautete: „Die ist von der Schule geflogen.“ Seltsam, dass weder meine Eltern, ich oder meine Schule das wussten. Mein Bruder war plötzlich angeblich ein Drogenhändler. Das mag zwar für die Tratschtanten und -onkel amüsant sein, aber in manchen Fällen geht es bereits in Rufmord über und kann den betreffenden Person schaden.

Der Zusammenhalt bestand selbstverständlich gegen alle Fremde, gegen alle, die ausscheren wollten oder anders waren. Neid begünstigte ebenso das Zusammenhalten.
Damit es immer genug Neuigkeiten gab oder gleich klar war, wer hier nicht (mehr) dazugehörte, dafür sorgten die Fenstergucker. Gehe durchs Dorf und beobachte einfach nur die wackelnden Vorhänge. In manchen Dörfern scheint es immer noch so zu sein.

Früher war alles besser – als Frau?

„Wenn der besoffen ist, grabscht er die jungen Mädels an. Vollkommen normal.“
„Stell dich doch nicht so an. Dummer Sprüche sind normal.“
„Wenn die so rumläuft, dann muss sie sich nicht wundern, wenn sie irgendwann vergewaltigt wird.“

Und so weiter… Mein Früher definierte vieles noch als normal, was heute glücklicherweise die Ausnahme ist. Als Teenager und Jugendliche erlebte ich es sehr oft, dass sich irgendwelche Typen im dicht gedrängten Bus an mir rieben. Eklig! Ab und an rutschte mir, natürlich ganz aus Versehen, der Ellenbogen aus. Bei wem hätte ich mich denn auch beschweren können? Außerdem war es mir peinlich. Mir! Dabei lief ich nicht einmal mit einem Minirock herum.

Ein Glück, in meinem Früher wurde mir nicht dir höhere Schulbildung oder eine Ausbildung verwehrt, weil ich „nur ein Mädchen“ bin. Doch in der Oberstufe lernte ich ein Mädchen kennen, das tatsächlich diesen Kampf noch ausfechten musste. Ich brauche auch keinen Mann, der mir erlaubt, dass ich arbeiten gehen darf. 1977 wurde das Gesetz geändert.

Bei all dem Fortschritt der 1970er und 1980er sollten gerade wir Frauen uns klar machen, dass die Gleichberechtigung, die ständigen „selbstverständlichen“ Belästigungen, Schuldzuweisungen etc. in diesen Jahren erst allmählich überdacht wurden.

Was wir heute kennen, ist also noch gar nicht so lange Alltag.
Bei diesem Punkt fällt mein Urteil also so aus: Heute ist es als Frau besser!

Früher wären wir psychisch Erkrankten „Irre“ gewesen

…und würden vielleicht längst nicht mehr leben, weil uns eine der Behandlungsmethoden umgebracht hätte oder, in der NS-Zeit, wir vergast worden wären.

Eine der Behandlungsmethoden war die Lobotomie, in den USA führte Walter Freeman etliche durch, über den Geo kompakt schrieb. Obwohl nicht klar war, wie genau das Gehirn funktionierte, wurde daran herum“operiert“. Kaum vorstellbar, oder? Das war jedoch nicht die einzige kuriose Behandlungsmethode.

Im Phillipshospital in Riedstadt, Kreis Groß-Gerau, ist ein Psychiatrie-Museum und der Artikel in der Welt verspricht zumindest einen interessanten Ausflug. Seit 1535 kümmert man sich dort um psychisch erkrankte Menschen, dementsprechend umfangreich sind die Unterlagen und Instrumente.
Während der NS-Zeit starben viele der Patienten in der Tötungsanstalt Hadamar.

Auch das Landeskrankenhaus Alzey, in dem ich Ende 2021 bis Januar 2022 behandelt wurde, beschäftigt sich mit seiner NS-Vergangenheit. Auf dem Gelände ist ein Mahnmal mit zahlreichen Namen. Der Mord an 453 Menschen, 229 Zwangssterilisationen und die Deportation vieler weiterer alleine dort verdeutlicht, dass in diesem Früher nichts besser war.

Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. spricht von mindestens 250.000 Ermordeten und von bis zu 400.000 Zwangssterilisationen.

Mit meiner Depression, die immer wieder auch mit schweren Episoden daherkommt, wäre ich vielleicht kein Euthanasieopfer geworden, weil ich ja immer noch etwas „Kontrolle“ habe. Trotzdem…

Im mittelalterlichen Europa wäre ich vermutlich auf dem Scheiterhaufen gelandet, da die „Wahnsinnigen“ gerne als von Teufel und Dämonen besessene Menschen eingestuft wurden. Diese wurden verbrannt, bevor sie andere anstecken konnten.
Oder der Dämon überspringen kann? Aber ist es dem nicht zu heiß auf einem Scheiterhaufen? Springt er dann nicht einfach zu einem der Umherstehenden? Oder sind Dämonen hitzebeständig? Dann verstehe ich jedoch nicht den Sinn einer Verbrennung. Ich habe null Ahnung von sowas.

So oder so: Das Heute gewinnt einmal mehr.

Heute ist besser als früher

„Früher war alles besser“, das sagten sogar die Leute über das Dritte Reich und den Krieg. Oder über die Nachkriegszeit. Heute jammern viele immer noch mit den gleichen Worten.

Was alles heute zum Beispiel besser ist:

  • Kalter Krieg? Geteiltes Deutschland? Erinnert sich noch jemand?
  • Die Leute sind weniger angriffslustig, zumindest körperlich. Wie oft gab es Schlägereien? Jährlich findet in Bad Kreuznach der Jahrmarkt statt. Ich habe den Eindruck, dass auch dort die Schlägereien nachgelassen haben.
  • Die Statistik der Mordopfer in Deutschland ist gesunken. Allgemein sinkt die Kriminalität. Eine der Studien dazu und des falschen Gefühls betreute Prof. Dr. Thomas Feltes, Professor für Kriminologie.
  • Als Vegetarierin weiß ich, dass heute ein Gastronomiebesuch nicht mehr in Salat oder Pommes endet, weil das Gemüse bis zur Unkenntlichkeit zerkocht wurde.
  • Verlaufen? Autopanne? Überhaupt Hilfe holen? Ist heute einfacher dank mobiler Telefone, GPS etc. Klar, außer da ist ein Funkloch. Die Telefonzellen waren früher nicht überall – und wie oft fehlten im Notfall die Groschen dafür oder das Telefon war defekt?
  • Die Aufmerksamkeit, was eine sexuelle Belästigung oder was Diskriminierung ist. Das war doch früher sowas von „normal“ und die Betroffenen blieben alleine zurück mit ihren Sorgen und negativen Erfahrungen. Hier ist noch viel zu tun, aber wir sind auf einem guten Weg.
  • Auf einem viel zu langsamen Weg: Klimaschutz. Hier muss ich jedoch auch an das Waldsterben in den 1980ern denken oder an die Berichte über den tödlichen Smog 1952 in London.
  • der medizinische Fortschritt
  • Viele Seuchen sind mittlerweile heilbar.
  • all die wissenschaftliche Erkenntnisse, zum Beispiel über das Gehirn
  • Per Internet haben wir mittlerweile Zugang zu einem immensen Wissen.
  • Es ist leichter mit weit entfernten Personen in Kontakt zu bleiben.
  • und und und

…zum Schluss

Wieso wird da ständig verklärt? Blenden wir Menschen so sehr die negativen Erfahrungen aus? Oder sind wir so wenig anpassungsfähig?
Früher war alles anders stimmt ja wohl mehr!

Und was das Beklagen über Internet, Smartphones & co betrifft:
Wie viele Volldeppen bauten damals einen Unfall weil sie mitten während der Fahrt eine Kassette suchten? Wie viele Idioten hätten auch früher genügend Möglichkeiten gefunden, sich wichtig zu tun und ihre Zeit mit sonstwas zu verbringen?

Es ist unsere Entscheidung, wie wir was nutzen und wie wir damit umgehen. Früher und auch heute müssen wir dafür selbst die Verantwortung tragen, das hat sich nicht geändert.

Du hast nichts Richtiges

Im Jahr 2023 könnte so jemand wie ich tatsächlich auf die blöde Idee kommen, dass es sich mittlerweile herumgesprochen hat, dass eine Depression eine Krankheit ist. Immer wieder werde jedoch ich eines Besseren belehrt: „Aber du hast doch nichts Richtiges!“

Wieso „wissen“ einige Leute mehr als meine Psychiaterin oder das Klinikpersonal im Landeskrankenhaus Alzey oder der Rehaklinik? Vermutlich gehen einige davon aus, dass ich nicht genug weine und ein Lächeln grundsätzlich bedeutet: „Mir geht’s gut.“
Dabei weine ich ungern in der Öffentlichkeit, so wie die meisten Menschen. Und ein Lächeln? Zum Teil ist das ein antrainiertes Verhalten. Oder hat jemals einer Eltern gehört, die ihre Kinder aufforderten, patzig, trotzig, schlecht gelaunt zu sein? Ich lernte, ich solle nicht „so eine Fresse“ ziehen. Immer hübsch lächeln, immer hübsch die Hand reichen und bloß keine Umstände machen.

Verurteilungen verletzen

„Nichts Richtiges“ bedeutet, dass ich nicht krank bin, sondern eine Simulantin bin. Zumindest unterstellt mir die andere Person das. Doch was ist ein Simulant? Das ist jemand, der eine Krankheit vortäuscht. Also täuscht, vorgibt – lügt. Aufgrund meiner Depression bin ich gerade arbeitsunfähig. Also bin ich in Wirklichkeit arbeitsfähig, belüge meine Umgebung und bin höchstwahrsheinlich einfach nur unglaublich faul.

Das Urteil „nichts Richtiges“ zieht also bereits hier einen ganzen Rattenschwanz hinter sich her. Es geht jedoch noch weiter.

„Nichts Richtiges“ bedeutet, dass ich ein Weichei bin, ein Jammerlappen, mich vor meiner Verantwortung drücken will und einfach nur mal die Zähne zusammenbeißen muss. Genau das sage ich mir auch, gerade wenn es mir besonders schlecht geht. Leider hilt mir das nicht, wieder auf die Beine zu kommen, sondern saugt mir das letzte Bisschen an Energie aus. Sagt mir jemand anderes das, fühle ich mich total verletzt und ich ziehe mich zurück. Und eines ist sicher: Bei dieser Person werde ich lügen, um mich zu schützen. „Jaja, alles soweit okay.“

Oft wünsche ich mir, die Depression wäre klar sichtbar

…denn dann wird es schwerer, die Depression als „nichts Richtiges“ abzustempeln. Gleichzeitig wünsche ich es mir jedoch nicht, da ich fürchte, dass dies schnell zu Diskriminierungen führen kann.
Depression? Auch wenn mal gehabt und genesen = hält nix aus = kann man Job XXX nicht geben = ist wahrscheinlich unfähig, sich um ihr Kind zu kümmern usw.
Viel zu oft wird diese Krankheit mit einem Persönlichkeitszug bzw. einer Schwäche gleichgesetzt.

Oder wie schnell heißt es auch, dass der/die Kranke das selbst „verschuldet“ hat?
Heute im Gespräch mit meiner Psychiaterin verglich ich kurz die Depression mit meiner Colitis Ulcerosa (chronische Darmerkrankung). Keiner käme auf die Idee, wenn ich von Blut im Stuhl oder Unterleibsschmerzen erzähle, dass ich das ja selbst verursacht habe. Wieso wird eine Erkrankung, die meistens viel besser behandelbar ist und, zumindest für mich, viel besser zu ertragen ist, ernst genommen? Während die potenziell tödliche Erkrankung als Hirngespinst verharmlost wird?

Das alles verstehe ich einfach nicht.

Corona-Zeit und meine Depression

Verstärkte die Corona-Zeit meine Depression, so wie es einigen Menschen ging? So, wie es die Querschwurbler als eine der Begründungen gegen die Maßnahmen nannten? Obwohl wir psychisch Erkrankten garantiert vorher nur unter „Irre“ oder „Wehleidige“ bei ihnen fielen.

Nein, bei mir verstärkte die Corona-Zeit mit ihren Lockdowns und anderen Maßnahmen nicht nicht meine Depression. Das gleich zum Anfang. Ausgerechnet die Corona-Zeit erleichterte mir vieles und zögerte so bei mir den Totalzusammenbruch hinaus.
Doch weshalb habe ich eine vollkommen andere Erfahrung als andere Menschen?

Die Corona-Zeit half mir beim Studium

Oktober 2016 startete ich „nebenher“ mein Studium mit dem Kenfach Erziehungswissenschaft und dem Beifach Kunstgeschichte. Nebenher = ich ging weiterhin arbeiten und versuchte, das Studium da einzupassen. Für Bafög sind Menschen über 35 zu alt. Genauso wie für die studentische Krankenkasse, wodurch die Option Werkstudent bei mir ebenfalls flach fiel. Also arbeiten und versuchen, möglichst nach Feierabend Veranstaltungen besuchen. An Prüfungstagen und wenn es gar nicht anders ging, musste ich frei nehmen. Vor der Corona-Zeit.

Die Lockdowns, der erste startete am 16. März 2020, verschoben die Veranstaltungen ins Internet. Keine Zugfahrten mehr nach Mainz, kein extra frei nehmen – auch mitten am Tag war es plötzlich für mich möglich, teilzunehmen. Ich musste einfach nur meinen Tablet mit zur Arbeit nehmen und mich dann für die knappe Stunde, länger dauerten die Onlineveranstaltungen meist nicht, zurückziehen. Das war dann meine Mittagspause oder ich hängte einfach die Zeit dran und hatte später Feierabend.

Für mich war das also eine zeitliche und finanzielle Erleichterung. 2021 konnte ich dann mein Studium abschließen – inklusive mündlicher Prüfung, der „Verteidigung“ meiner Bachelorarbeit, die per Videochat stattfand.
Dank Corona-Zeit mit Lockdowns war ich somit auch schneller als befürchtet fertig.

Corona-Zeit und Privatleben

Privatleben? Welches Privatleben? Ach, das Leben fernab vom Studium und Hausarbeit? Mit anderen Menschen?

Ich denke, ich gehörte noch nie zu den Leuten, die nonstop mit anderen zusammenhängen mussten. Viele meiner Hobbys kann ich sehr gut alleine ausüben, bei einigen stören andere sogar. Malen, schreiben, lesen, Musik hören… Als ich dann mit dem Studium startete, schrumpfte die eigentliche Freizeit ohnehin und wenn ich mal nichts zu tun hatte, schlief ich meistens sogar nur noch.

Die Lockdowns brachten mir dementsprechend auch hier eine Erleichterung: Wenn man sich nicht treffen darf, dann fragt auch keiner. Keine Ausrede notwendig.
Beim Einkaufen waren weniger Menschen unterwegs. Menschenmengen mag ich ohnehin nicht, also auch hier eine Erleichterung. Die Busse waren nicht mehr ständig überfüllt – Erleichterung. Plötzlich war ich irgendwie „normal“, wenn ich meist alleine rumhing. Keine Erklärung benötigt.

Ich fühlte mich also kein Bisschen eingeschränkt durch die Corona-Maßnahmen.

Corona-Zeit und Arbeitsleben

Selbst auf der Arbeit war es für mich weniger stressig. Klingt fies, ich weiß. Ich unterrichtete, war Jobcoach und pädagogische Mitarbeiterin, die also auch bei Schwierigkeiten versuchte, weiterzuhelfen. Der Unterricht schrumpfte auf Fernunterricht oder, später, auf kleinere Gruppen bzw. Einzelunterricht. Genauso wie die pädagogische Arbeit. Es war bei uns also viel weniger „Publikumsverkehr“.

Manche Kollegen vermissten den normalen Wahnsinn, andere genossen die ruhigere Zeit ebenso. Und ich? Tja, ich war ohnehin schon fertig, stark depressiv und fühlte mich immer heftiger ausgelaugt. Die „Überdosis Mensch“ hatte ich mir im Grunde bereits vor Beginn des Studiums geholt, mit Arbeit und Studium leerte ich dann noch meinen Akku kontinuierlich. Den leerte ich so, dass ich denke, dass er mittlerweile vollends beschädigt ist. Dummerweise kann ich keinen neuen bestellen, so wie es bei einem Handy oder Laptop möglich ist.

Corona-Zeit und meine Depression

Deshalb denke ich, dass das Ende der Lockdowns dann bei mir das Rädchen war, das meine ohnehin bestehende Depression verschlimmerte.Wegen dieser hatte ich ja bereits Ende 2019 zum ersten Mal Hilfe geholt – also vor den Lockdowns. Und etliche Jahrzehnte zu spät, wenn ich mir verdeutliche, dass ich erste Suizidgedanken schon mit 11 oder 12 Jahren hatte.

Ohne Lockdown stürmte alles wieder auf mich ein. Viel mehr Lärm überall, viel mehr Menschen überall, Gedränge, Hektik, wieder Leute auf Kuschelkurs beim Einkaufen, auf der Arbeit nonstop Gespräche (damit meine ich auch welche, die nicht ich führte)… Zu viel Mensch überall, ganz einfach.

Im Moment bin ich stabiler, doch mein Akku läuft nach wie vor schnell leer. Ich halte kaum andere Menschen aus, wenn dann nur in kleineren „Dosen“, von denen ich mich meist erholen muss. Für mich persönlich herrscht also immer noch so eine Art Lockdown-Zeit, obwohl ich im Grunde Menschen mag.

Ob ich jemals wieder in „meinem“ Beruf arbeiten werde? Das bezweifele ich. Vermutlich war es schon vorher nicht das Richtige für einen Menschen, der eher introvertiert ist und durch Selbstisolation Kraft tankt.
Wohin dann meine Reise geht? Ich habe keine Ahnung. Das werde ich herausfinden. An erster Stelle steht für mich erst einmal: stabil werden.

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