Die psychische Erkrankung Dysthymia wird auch „Dysthymie“ genannt.

Früher wurde diese Form der Depression als „Neurotische Depression“ bezeichnet, heute oft noch (vermutlich zum besseren Verständnis) als „chronische Depression“. Unter F34.1 ist die Dysthymia im ICD-10 klassifiziert, hier der Link dazu: https://www.icd-code.de/icd/code/F34.-.html

Der Begriff „Dysthymia“ kommt aus dem Griechischen und bedeutet „Missmut“. Aber helfen das und die Definition im ICD-10-Code wirklich, diese Krankheit zu verstehen, wenn man noch nie damit zu tun hatte? Ich denke nicht.
Daher beschreibe ich hier „meine“ Dysthymie, die natürlich bei anderen Betroffenen zu einem anderen Zeitpunkt beginnen oder sich anders äußern kann.

 

Meine Dysthymie

Wann genau diese alte Bekannte zu Besuch kam und sich zum Bleiben entschied, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass ich mit 11 oder 12 erste Selbstmordgedanken hatte und mich davor bereits meist einfach nur mies gefühlt habe.
Nach der Trennung und Scheidung meiner Eltern, dem Wechsel von der Grundschule aufs Gymnasium und vielen anderen Umständen fühlte ich mich nur noch wie im falschen Leben. Irgendwie überfordert, ich war falsch, ich machte alles falsch, alles um mich herum war falsch… Ich konnte es damals nur nicht so ausdrücken, wenn es überhaupt interessiert hätte. Denn dieses Gefühl war ebenfalls da: Ich interessierte nicht. Ich hatte gefälligst zu „funktionieren“, „keine Fresse zu ziehen“, keine Schwierigkeiten zu machen – und es war scheinbar eine Katastrophe, dass ich es im Halbjahreszeugnis auf dem Gymnasium in Englisch nur auf eine Vier schaffte.
So oder so, ich fühlte mich fast immer fehlerhaft und fehl am Platz.

Diese Gefühle hielten an, im Grunde bis heute. Ab und an gesellte sich noch eine handfeste Depression dazu. Vermutlich nahm ich leichte Episoden gar nicht wahr, weil das halt nur die etwas schwereren Tage waren.

Ende 2019 suchte ich erstmalig professionelle Hilfe aufgrund einer schweren Depression. Die Dysthymie wurde jedoch erst Ende 2021 festgestellt, als ich mit einer schweren Depression inklusive Suizidgefahr im Landeskrankenhaus Alzey war. Das ist jedoch normal, wie ich erfuhr:

Da Menschen, die an Dysthymie leiden, ihren Alltag bewältigt bekommen, fallen sie kaum auf. Erst wenn eine mittelschwere oder schwere depressive Episode hinzu kommt, kann die Dysthymie entlarvt werden. Dann handelt es sich sogar um eine „Double Depression“, da zwei Formen der Depression vorliegen.

 

Was habe ich von der Dysthymia?

  • ein Selbstwertgefühl, das kaum vorhanden ist
  • Angst, Fehler zu machen
  • Angst, andere zu enttäuschen
  • Angst, nicht gut genug zu sein bzw. dass andere bemerken, dass ich nicht gut genug bin
  • Angst, dass ich als Hochstaplerin entlarvt werde, also eine, die z. B. nur durch Glück ihren Bachelor machte (so bekloppt es für viele klingt)
  • Ich erwarte für die Zukunft meist nichts Gutes.
  • Da ich meist nichts Gutes erwarte, bin ich zwar gut im Pläne schmieden, aber setze sie dann nicht um. (Aber vorsicht: Wenn ich dann wirklich etwas umsetzen will, dann mache ich es zügig – deshalb waren meine Selbstmordpläne so gefährlich.)
  • nach außen okay, innerlich meist leer oder niedergeschlagen
  • Grübelschleifen wären hübsch, bei mir sind’s schon echte verhedderte Grübelknäuel
  • Etwas Falsches gesagt oder getan? Das kann ich mir mitunter sogar jahrelang vorwerfen!
  • Ich fühle mich schnell gestresst, ein Gefühl, das ich lange unterdrückte, weil ich mich ja nicht so anstellen wollte. Das lasse ich erst jetzt zu – und ich habe wahnsinnig viele Dinge, die mich stressen, was mich selbst total erstaunt. Ach so: Und trotz unterdrücken war ich ja trotzdem gestresst…
  • Ich brauche viel Zeit alleine und bekomme schnell eine „Überdosis Mensch“.
  • Keine Ahnung, ob das Teil der Dysthymia ist oder diese unterstützt: Ich bin teilweise extrem empfindlich – zu laut, zu schrill, zu grell, zu kratzig, zu sonstwas. Teilweise scheine ich auch unter einer Art Reizüberflutung zu leiden, dann kann ich mich schlechter konzentrieren.

Meine alte Bekannte Dysthymia

Mittlerweile nenne ich meine Dysthymie lieber „Dysthymia“, weil das doch freundlicher klingt. Immerhin ist sie eine alte Bekannte, die mich nie verlassen hat, und die all meine Schwächen sehr gut kennt. Durch sie bin ich weniger belastbar als mir lieb ist und als ich lange akzeptieren wollte.

Schaue ich mir meinen beruflichen Lebenslauf an, ist das zwar schwer vorstellbar, aber solche Späße wie z. B. neben einer 39-Stunden-Woche eine Bachelorarbeit schreiben haben einen extrem hohen Preis: Die bereits vorhandene Depression mündete in eine schwer depressive Phase mit akuter Suizidgefahr.

Und? War ich wenigstens stolz, den Bachelor geschafft zu haben? Nö.
Selbst als ich das Bachelorzeugnis in den Händen hielt, konnte ich mich nicht mehr freuen. Die Bewertung der Arbeit las ich mir durch und achtete nur auf das Negative. Ich befürchtete sogar, dass es sich um einen Fehler handelte und ich doch nicht bestanden hatte!

Auch wenn ich gerade mit mir selbst kämpfe, weil es sich für mich total angeberisch anhört, nenne ich doch meine Noten. Vermutlich wird so deutlicher, wie verdreht mein Hirn funktioniert:
1,5 Durchschnitt auf meinem Bachelorzeugnis mit dem Kernfach Erziehungswissenschaft und dem Beifach Kunstgeschichte.
Bachelorarbeit schriftlich 1,7, mündlich 1,0 = 1,4 gesamt.
Ich war also weit von einem „Durchgefallen“ entfernt.

Auf die Schultern klopfen kann ich mir dafür aber trotzdem nicht, denn das hätte ich doch noch viiiiel besser machen können. Oder?