Willkommen im Land der Dysthymie und Depression!

Monat: März 2023

Du hast nichts Richtiges

Im Jahr 2023 könnte so jemand wie ich tatsächlich auf die blöde Idee kommen, dass es sich mittlerweile herumgesprochen hat, dass eine Depression eine Krankheit ist. Immer wieder werde jedoch ich eines Besseren belehrt: „Aber du hast doch nichts Richtiges!“

Wieso „wissen“ einige Leute mehr als meine Psychiaterin oder das Klinikpersonal im Landeskrankenhaus Alzey oder der Rehaklinik? Vermutlich gehen einige davon aus, dass ich nicht genug weine und ein Lächeln grundsätzlich bedeutet: „Mir geht’s gut.“
Dabei weine ich ungern in der Öffentlichkeit, so wie die meisten Menschen. Und ein Lächeln? Zum Teil ist das ein antrainiertes Verhalten. Oder hat jemals einer Eltern gehört, die ihre Kinder aufforderten, patzig, trotzig, schlecht gelaunt zu sein? Ich lernte, ich solle nicht „so eine Fresse“ ziehen. Immer hübsch lächeln, immer hübsch die Hand reichen und bloß keine Umstände machen.

Verurteilungen verletzen

„Nichts Richtiges“ bedeutet, dass ich nicht krank bin, sondern eine Simulantin bin. Zumindest unterstellt mir die andere Person das. Doch was ist ein Simulant? Das ist jemand, der eine Krankheit vortäuscht. Also täuscht, vorgibt – lügt. Aufgrund meiner Depression bin ich gerade arbeitsunfähig. Also bin ich in Wirklichkeit arbeitsfähig, belüge meine Umgebung und bin höchstwahrsheinlich einfach nur unglaublich faul.

Das Urteil „nichts Richtiges“ zieht also bereits hier einen ganzen Rattenschwanz hinter sich her. Es geht jedoch noch weiter.

„Nichts Richtiges“ bedeutet, dass ich ein Weichei bin, ein Jammerlappen, mich vor meiner Verantwortung drücken will und einfach nur mal die Zähne zusammenbeißen muss. Genau das sage ich mir auch, gerade wenn es mir besonders schlecht geht. Leider hilt mir das nicht, wieder auf die Beine zu kommen, sondern saugt mir das letzte Bisschen an Energie aus. Sagt mir jemand anderes das, fühle ich mich total verletzt und ich ziehe mich zurück. Und eines ist sicher: Bei dieser Person werde ich lügen, um mich zu schützen. „Jaja, alles soweit okay.“

Oft wünsche ich mir, die Depression wäre klar sichtbar

…denn dann wird es schwerer, die Depression als „nichts Richtiges“ abzustempeln. Gleichzeitig wünsche ich es mir jedoch nicht, da ich fürchte, dass dies schnell zu Diskriminierungen führen kann.
Depression? Auch wenn mal gehabt und genesen = hält nix aus = kann man Job XXX nicht geben = ist wahrscheinlich unfähig, sich um ihr Kind zu kümmern usw.
Viel zu oft wird diese Krankheit mit einem Persönlichkeitszug bzw. einer Schwäche gleichgesetzt.

Oder wie schnell heißt es auch, dass der/die Kranke das selbst „verschuldet“ hat?
Heute im Gespräch mit meiner Psychiaterin verglich ich kurz die Depression mit meiner Colitis Ulcerosa (chronische Darmerkrankung). Keiner käme auf die Idee, wenn ich von Blut im Stuhl oder Unterleibsschmerzen erzähle, dass ich das ja selbst verursacht habe. Wieso wird eine Erkrankung, die meistens viel besser behandelbar ist und, zumindest für mich, viel besser zu ertragen ist, ernst genommen? Während die potenziell tödliche Erkrankung als Hirngespinst verharmlost wird?

Das alles verstehe ich einfach nicht.

Corona-Zeit und meine Depression

Verstärkte die Corona-Zeit meine Depression, so wie es einigen Menschen ging? So, wie es die Querschwurbler als eine der Begründungen gegen die Maßnahmen nannten? Obwohl wir psychisch Erkrankten garantiert vorher nur unter „Irre“ oder „Wehleidige“ bei ihnen fielen.

Nein, bei mir verstärkte die Corona-Zeit mit ihren Lockdowns und anderen Maßnahmen nicht nicht meine Depression. Das gleich zum Anfang. Ausgerechnet die Corona-Zeit erleichterte mir vieles und zögerte so bei mir den Totalzusammenbruch hinaus.
Doch weshalb habe ich eine vollkommen andere Erfahrung als andere Menschen?

Die Corona-Zeit half mir beim Studium

Oktober 2016 startete ich „nebenher“ mein Studium mit dem Kenfach Erziehungswissenschaft und dem Beifach Kunstgeschichte. Nebenher = ich ging weiterhin arbeiten und versuchte, das Studium da einzupassen. Für Bafög sind Menschen über 35 zu alt. Genauso wie für die studentische Krankenkasse, wodurch die Option Werkstudent bei mir ebenfalls flach fiel. Also arbeiten und versuchen, möglichst nach Feierabend Veranstaltungen besuchen. An Prüfungstagen und wenn es gar nicht anders ging, musste ich frei nehmen. Vor der Corona-Zeit.

Die Lockdowns, der erste startete am 16. März 2020, verschoben die Veranstaltungen ins Internet. Keine Zugfahrten mehr nach Mainz, kein extra frei nehmen – auch mitten am Tag war es plötzlich für mich möglich, teilzunehmen. Ich musste einfach nur meinen Tablet mit zur Arbeit nehmen und mich dann für die knappe Stunde, länger dauerten die Onlineveranstaltungen meist nicht, zurückziehen. Das war dann meine Mittagspause oder ich hängte einfach die Zeit dran und hatte später Feierabend.

Für mich war das also eine zeitliche und finanzielle Erleichterung. 2021 konnte ich dann mein Studium abschließen – inklusive mündlicher Prüfung, der „Verteidigung“ meiner Bachelorarbeit, die per Videochat stattfand.
Dank Corona-Zeit mit Lockdowns war ich somit auch schneller als befürchtet fertig.

Corona-Zeit und Privatleben

Privatleben? Welches Privatleben? Ach, das Leben fernab vom Studium und Hausarbeit? Mit anderen Menschen?

Ich denke, ich gehörte noch nie zu den Leuten, die nonstop mit anderen zusammenhängen mussten. Viele meiner Hobbys kann ich sehr gut alleine ausüben, bei einigen stören andere sogar. Malen, schreiben, lesen, Musik hören… Als ich dann mit dem Studium startete, schrumpfte die eigentliche Freizeit ohnehin und wenn ich mal nichts zu tun hatte, schlief ich meistens sogar nur noch.

Die Lockdowns brachten mir dementsprechend auch hier eine Erleichterung: Wenn man sich nicht treffen darf, dann fragt auch keiner. Keine Ausrede notwendig.
Beim Einkaufen waren weniger Menschen unterwegs. Menschenmengen mag ich ohnehin nicht, also auch hier eine Erleichterung. Die Busse waren nicht mehr ständig überfüllt – Erleichterung. Plötzlich war ich irgendwie „normal“, wenn ich meist alleine rumhing. Keine Erklärung benötigt.

Ich fühlte mich also kein Bisschen eingeschränkt durch die Corona-Maßnahmen.

Corona-Zeit und Arbeitsleben

Selbst auf der Arbeit war es für mich weniger stressig. Klingt fies, ich weiß. Ich unterrichtete, war Jobcoach und pädagogische Mitarbeiterin, die also auch bei Schwierigkeiten versuchte, weiterzuhelfen. Der Unterricht schrumpfte auf Fernunterricht oder, später, auf kleinere Gruppen bzw. Einzelunterricht. Genauso wie die pädagogische Arbeit. Es war bei uns also viel weniger „Publikumsverkehr“.

Manche Kollegen vermissten den normalen Wahnsinn, andere genossen die ruhigere Zeit ebenso. Und ich? Tja, ich war ohnehin schon fertig, stark depressiv und fühlte mich immer heftiger ausgelaugt. Die „Überdosis Mensch“ hatte ich mir im Grunde bereits vor Beginn des Studiums geholt, mit Arbeit und Studium leerte ich dann noch meinen Akku kontinuierlich. Den leerte ich so, dass ich denke, dass er mittlerweile vollends beschädigt ist. Dummerweise kann ich keinen neuen bestellen, so wie es bei einem Handy oder Laptop möglich ist.

Corona-Zeit und meine Depression

Deshalb denke ich, dass das Ende der Lockdowns dann bei mir das Rädchen war, das meine ohnehin bestehende Depression verschlimmerte.Wegen dieser hatte ich ja bereits Ende 2019 zum ersten Mal Hilfe geholt – also vor den Lockdowns. Und etliche Jahrzehnte zu spät, wenn ich mir verdeutliche, dass ich erste Suizidgedanken schon mit 11 oder 12 Jahren hatte.

Ohne Lockdown stürmte alles wieder auf mich ein. Viel mehr Lärm überall, viel mehr Menschen überall, Gedränge, Hektik, wieder Leute auf Kuschelkurs beim Einkaufen, auf der Arbeit nonstop Gespräche (damit meine ich auch welche, die nicht ich führte)… Zu viel Mensch überall, ganz einfach.

Im Moment bin ich stabiler, doch mein Akku läuft nach wie vor schnell leer. Ich halte kaum andere Menschen aus, wenn dann nur in kleineren „Dosen“, von denen ich mich meist erholen muss. Für mich persönlich herrscht also immer noch so eine Art Lockdown-Zeit, obwohl ich im Grunde Menschen mag.

Ob ich jemals wieder in „meinem“ Beruf arbeiten werde? Das bezweifele ich. Vermutlich war es schon vorher nicht das Richtige für einen Menschen, der eher introvertiert ist und durch Selbstisolation Kraft tankt.
Wohin dann meine Reise geht? Ich habe keine Ahnung. Das werde ich herausfinden. An erster Stelle steht für mich erst einmal: stabil werden.

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